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Πέμπτη 16 Απριλίου 2009

Das verschwundene Genie

Der Mathematiker Grigorij Perelman hat ein Jahrhundertproblem gelöst und bekommt dafür die Fields-Medaille. Doch er lehnt den höchsten Preis der Zunft ab. Radikal widersetzt er sich den Zwängen der Mediengesellschaft – und wird zum Medienstar.

Im Zentrum St. Petersburgs, am Fontanka-Kanal, residiert das Steklow-Institut der Mathematik. Die Fassade des Kaufmannshauses aus dem Ende des 18. Jahrhunderts ist unscheinbar, die Pracht im Inneren zurückhaltend. Gegenüber legen Touristenboote ab – fast eine Idylle. Doch seit gut einer Woche stören Fernsehteams die Ruhe der Mathematiker.

Alle suchen Antwort auf die Frage: Wo ist Grigorij Perelman? Der Mann, der im Alleingang eines der größten Rätsel der Mathematik löste und am Dienstag den »Nobelpreis« der Mathematik erhielt – aber es nicht einmal für Wert erachtete, zur Preisverleihung anzureisen?

Die Mitarbeiter des Steklow-Instituts sind leicht aufgeraut. Manche wittern bereits im Mobiltelefon des Reporters ein geheimes Aufnahmegerät. »Seit einer Woche werden wir angegriffen«, sagt der weißhaarige Professor Anatolij Werschik halb ironisch, halb gekränkt. Alle wollten wissen, wo Perelman sei, niemand interessiere sich für das Institut. Weshalb der bekannte Exforscher des Steklow verschwunden ist, kann er allerdings nicht genau sagen.

Sicher ist derzeit nur, dass Grigorij Jakowlewitsch Perelman in den vergangenen Jahren ein doppeltes Kunststück gelungen ist. Er hat fast im Alleingang die Poincaré-Vermutung gelöst, an der sich die Fachwelt hundert Jahre lang vergeblich abgearbeitet hatte (siehe Kasten). Und er hat es mit seinem Verhalten geschafft, dass sich plötzlich weltweit die Medien für mathematische Topologie interessieren.

Auch Anatolij Werschik bekommt das zu spüren. Kaum hat er erklärt, dass die Probleme, mit denen sich Perelman beschäftigt hat, nicht adäquat zu erläutern seien, da zieht die Reporterin des Fernsehsenders Russia Today einen Apfel und einen Mohnkringel aus der Tasche, streift ein Gummiband vom Arm und bittet den ehrwürdigen Präsidenten der Mathematischen Gesellschaft von St. Petersburg, Perelmans Thema doch bitte optisch darzustellen. Werschik nickt gottergeben und muss das Gummiband um die Gegenstände ziehen. Vom Mohnkringel rutscht ihm das Band ab, die Hände zittern. Die Popularisierung der Topologie ist Werschiks Sache nicht. »Jetzt noch die Arme mit Apfel und Mohnkringel hochhalten«, bittet der Kameramann.

Perelman würde solche Szenen vermutlich mit grimmigem Spott kommentieren. Nichts ist ihm mehr zuwider als medialer Rummel. »Ich denke nicht, dass ich irgendetwas zu sagen hätte, das von geringstem öffentlichem Interesse wäre«, diktierte er vergangene Woche der Reporterin des britischen Sunday Telegraph, Nadeschda Lobastowa, in den Block, der einzigen, mit der er offenbar sprach. »Ich weiß, dass heutzutage viel Eigenwerbung betrieben wird, und wenn Leute das tun wollen, wünsche ich ihnen viel Glück.« Seine Sache sei das nicht.

Gespannt warteten am Dienstag im Kongresspalast zu Madrid 4000 Mathematiker: Kommt er, oder kommt er nicht? Dass der Russe auf dem Kongress der Internationalen Mathematischen Union (IMU) aus der Hand von König Juan Carlos die Fields-Medaille bekommen sollte, den wichtigsten Preis, den die mathematische Welt zu vergeben hat, damit hatten die meisten gerechnet, mit seiner Anwesenheit die wenigsten. Und tatsächlich schaute nur das aus dem Internet bekannte Foto Perelmans von der Videowand dem Publikum in die Augen. Der Mathematiker war nicht nur nicht da – in dürren Worten gab IMU-Präsident John Ball bekannt, dass Perelman den Preis ohne Begründung ablehne. Betretenes Schweigen, dann klatschten einige Kollegen verlegen, der Kameramann eines russischen Senders begann seine Ausrüstung abzubauen.

Zwei Tage hatte Ball mit Perelman in St. Petersburg verbracht. Der empfing ihn höflich, aber ließ sich nicht dazu überreden, die Medaille anzunehmen. Er fühle sich isoliert von der mathematischen Gemeinde und wolle deshalb nicht deren Galionsfigur werden. Ob er sich Sorgen um Perelmans geistige Gesundheit mache, wurde Ball in Madrid gefragt. »Nein«, war die lakonische Antwort.

Über den Nichtanwesenden kursieren viele Geschichten – etwa, dass er es ablehne, Auto zu fahren und sich die Haare und Nägel zu schneiden, weil das von der Natur nicht vorgesehen sei. Was davon stimmt, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist, dass Perelman früh Genialität offenbarte. 1982 gewann er die Internationale Mathematik-Olympiade mit 42 von 42 möglichen Punkten. Und als er in den neunziger Jahren als Postdoktorand in den USA war, erhielt er Angebote erstklassiger Universitäten, die er alle ausschlug. Dafür kehrte er 1996 ans Steklow-Institut nach St. Petersburg zurück.
Dort muss er sich vorgenommen haben, im Alleingang die Poincaré-Vermutung zu beweisen – eine Aufgabe, für deren Lösung das Clay Mathematics Institute eine Million Dollar in Aussicht gestellt hat.

Im November 2002 legte Perelman die »Skizze eines eklektischen Beweises« für ein sehr viel allgemeineres Theorem vor, das die Poincaré-Vermutung fast nebenbei als Spezialfall enthält. Doch statt das lang gesuchte Ergebnis mit Getöse auf einer Pressekonferenz zu präsentieren oder wenigstens bei einer Fachzeitschrift einzureichen, stellte Perelman seine Arbeit einfach ins Internet, in den Wissenschaftsserver arXiv.org.

Erst allmählich dämmerte den Kollegen, was Perelman da gelungen war. Ob er etwa die berühmte Poincaré-Vermutung bewiesen habe, fragte ein Mathematiker ungläubig per E-Mail an. Perelmans Antwort: »That’s correct.«

Dass der Russe an dem Preisgeld von einer Million Dollar nicht sonderlich interessiert scheint, mehrt nur seinen Ruhm. Eigentlich sind in den Statuten des Clay-Instituts Internet-Veröffentlichungen nicht vorgesehen. Doch das kümmerte Perelman ebenso wenig wie die Ausarbeitung seiner Skizze. Zwar publizierte er Anfang 2003 noch einmal zwei kurze Ergänzungen (wieder im Internet) und reiste durch die USA, um seine Ideen vorzustellen. Doch das mühsame Nachrechnen im Detail überließ er anderen.

Drei Mathematikerteams haben sich seither mit einzelnen Aspekten von Perelmans großem Wurf herumgeschlagen. In drei bücherdicken Abhandlungen, zusammen über tausend Seiten stark, präsentierten sie kürzlich die Frucht ihrer jahrelangen Kärrnerarbeit. Das Ergebnis, stark vereinfacht: Perelman hat Recht.

Für James Carlson, den Präsidenten des ClayInstituts, ist das Poincaré-Problem damit gelöst. »Perelmans Arbeit ist drei Jahre lang unter die Lupe genommen worden und hat der Kritik standgehalten.« Und da die neuen Abhandlungen in anerkannten Journalen veröffentlicht wurden, sind auch Perelmans Internet-Publikationen quasi ab sofort offizialisiert. Nun müssen nach den Statuten des Instituts noch einmal zwei Jahre verstreichen, bevor der Clay-Preis tatsächlich übergeben werden kann – wenn Perelman überhaupt Interesse an dem Geld hat. Ansonsten, spekuliert Carlson, könne man mit der Million eventuell auch eine Stiftung für russische Mathematiker finanzieren.

Ein wenig Licht in das Dunkel um Perelmans Person bringt sein früherer Lehrer Serge Rukschin. »Ich bin so etwas wie sein scientific supervisor«, sagt der Mann, der Perelman 1977 bei einem Mathematik-Wettbewerb kennen lernte und ihn seither in seinem Mathematischen Zentrum förderte. Beide seien sie »Melomanen«, Musikliebhaber, erzählt Rukschin. Als Kind habe Perelman Lieder gesungen, wenn er eine Aufgabe gelöst hatte, und Rukschin legte für ihn in Rechenpausen Schallplatten von Dietrich Fischer-Dieskau auf. Dann zeigt Rukschin Schwarzweißfotos von damals: Grigorij schaut als ein etwas dicklicher Junge mit Oberlippenflaum selbstbewusst in die Kamera. »Ein kleines Wunderkind«, sagt sein ehemaliger Lehrer.

Derzeit lebe er mit seiner Mutter bescheiden, fast armselig am Stadtrand. Der Rummel der vergangenen Tage habe ihn um die »Ruhe seiner Forscherseele« gebracht. Auf das Steklow-Institut in St. Petersburg, in dem Perelman bis Ende vergangenen Jahres arbeitete, ist Rukschin nicht gut zu sprechen. »Das Institut hat viel dazu beigetragen, ihn zu verjagen«, sagt er. Die Abteilung für Geometrie habe Perelman vor gut drei Jahren nicht mehr zur Wiederwahl vorgeschlagen. »Deutlich gesagt: Sie wollten ihn rauswerfen.«

Am Fontanka-Kanal weist man solche Vorwürfe empört zurück. »Nein, Grischa ist hier immer verehrt worden«, sagt Anatolij Werschik. Das Steklow-Institut zeichne sich dadurch aus, dass es keine Auseinandersetzungen unter den Mitarbeitern gebe. Perelman sei letztlich gegangen, weil »es ihm so angenehmer ist«.

Das ist sogar durchaus möglich. Vermutlich fand der ebenso begabte wie sensible Mathematiker den Streit um Posten und Positionen einfach lächerlich. Sein früherer Kollege Michail Gromow, der heute am französischen Institut des Hautes Études Scientifiques arbeitet, berichtet, Perelman sei über den Niedergang ethischer Normen in der Gesellschaft und in der Mathematik so betrübt, dass er von dem ganzen Betrieb nichts mehr wissen wolle. »Ich glaube, er hält uns alle für viel zu konformistisch, deshalb geht er bewusst in die andere Richtung«, sagt Gromow. Perelman habe immer »sehr starke Ansichten darüber, was richtig und falsch ist« geäußert – »und er will von niemandem anderen abhängig sein«.

Und warum lehnt er den höchsten Preis seiner wissenschaftlichen Kollegen ab? »Das Theorem ist für ihn keine Ware gegen Geld, sondern ein ästhetischer Wert wie ein Cranach-Bild in der Alten Pinakothek in München«, sagt Serge Rukschin. Deshalb habe »Grischa« auch nie an seine Karriere gedacht, genauso wenig, wie er sich um gekämmte Haare oder seine Rasur kümmere, von Geld und Auslandsreisen ganz zu schweigen. »In Russland sagen wir: Man kann den tiefen Fluss nicht mit einer Holzlatte messen«, sagt Rukschin. Sein Ausnahmeschüler falle aus dem üblichen wissenschaftlichen Standard einfach heraus.

Jedenfalls ist Grigorij Perelman gerade durch seine Verweigerungshaltung unfreiwillig das Kunststück gelungen, zum einzigen Medienstar der zeitgenössischen Mathematik zu werden. Sein Verhalten »lenkt die Aufmerksamkeit ab von den anderen jungen Mathematikern, die gekommen sind, um den Preis für ihre fantastische Arbeit in Empfang zu nehmen«, bedauert Günter Ziegler, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Wen interessiert es schon, womit sich die Fields-Preisträger Andrej Okunkow, Terence Tao und Wendelin Werner beschäftigen? Wer kennt den Namen von Kiyoshi Itô, der für seine Arbeiten über den Zufall in Madrid den erstmals vergebenen Gauß-Preis erhielt?

Auch für Perelman wären die Artikel über seine Person (wenn er sie läse) wohl ein Beleg für seine These, dass die Medien sich nur für das Unwichtige interessieren. Andererseits kann man es dem nichtmathematischen Publikum kaum verdenken, dass es Geschichten mag, die große Geister in menschlichem Licht erscheinen lassen. Es ist jedenfalls eine schöne Pointe, dass derselbe Mensch, der ein mathematisches Jahrhundertproblem beseitigt hat, uns mit seinem Verhalten ein neues Rätsel aufgibt, das kaum weniger schwer zu lösen ist.

Mitarbeit: Allyn Jackson, Christoph Drösser