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Σάββατο 11 Απριλίου 2009

Der Psychologe Stephan Grünewald hat viele tausend Deutsche auf die Couch gelegt. Dabei haben sich Abgründe aufgetan.

Der Psychologe Stephan Grünewald hat viele tausend Deutsche auf die Couch gelegt. Dabei haben sich Abgründe aufgetan.

Herr Grünewald, Sie und Ihre Kollegen legen jedes Jahr mehr als 5000 Menschen buchstäblich auf die Couch. Wie geht es der deutschen Seele?
Wir führen tiefenpsychologische Interviews durch, sprechen jeweils zwei Stunden lang über alle Fragen, die das Leben so stellt. Vom Essen und Trinken, über den Umgang mit Medien, Partnerschaft, Sex und natürlich auch über Träume.

Und was kommt dabei heraus?
Egal, ob Arbeitnehmer, Politiker, Manager, Hausfrauen oder Studenten - alle haben das Gefühl, sie laufen wie im Hamsterrad, tun immer mehr für Beruf, Familie und Ausbildung, betreiben einen ungeheuren Aufwand, um glücklich zu sein. Wenn sie dann aber am Ende des Tages aus dem Taumel erwachen, sind sie keinen Schritt weiter. Fragen sich: Wofür das Ganze? Wir Psychologen nennen das "überdrehte Erstarrung".
Was läuft da denn falsch?
Die Deutschen haben in den sicheren und satten 80er und 90er Jahren eine Idealvorstellung vom Leben entwickelt, die paradiesische Züge trägt: Nicht wir, sondern unser Geld arbeitet für uns an der Börse. Privat wie beruflich können wir immer wieder neu anfangen. Wir sind rundum versorgt - und genießen dabei jede Menge erfüllte Freizeit. Helmut Kohl war in diesem überdrehten Paradiestraum der sichere Rückhalt, die Fleisch gewordene Besitzstandswahrung. Er gaukelte uns das ewige Glück vor.

Lange her. Warum sollten die Menschen darunter heute noch leiden?
Weil die Deutschen sich noch immer im Paradies wähnen. Doch zugleich hat ein Mentalitätswandel stattgefunden. Zum ersten Mal sind wir Anfang der 90er Jahre bei einer Studie mit Jugendlichen darauf gestoßen. Plötzlich war der politische, kritische Geist der Vorgängergeneration verschwunden - die Kämpfe gegen Nachrüstung, gegen Autoritäten, gegen Umweltzerstörung. Die Kinder der 68er lächelten milde über diese Aufgeregtheit ihrer Eltern und Lehrer und begaben sich in eine coole, leidenschaftslose Beobachterposition. Diese gleichgültige Lebenshaltung hat die Art und Weise, wie wir heute uns und der Welt begegnen, in einem weitaus größeren Maße revolutioniert als die Jugendbewegung der 68er.

Gibt es dafür Beispiele im Alltag?
Zuhauf. Mir ist ein Fernsehinterview mit dem Comedian Wigald Boning in Erinnerung geblieben. Er wird gefragt, woran er in dieser Welt am meisten leidet. Und Boning antwortet: Ihn stimme es zutiefst traurig, wenn er am Wegesrand alte Autoreifen sähe, die, obwohl sie jahrelang treue Dienste geleistet hätten, dann achtlos weggeschmissen würden. Dieser Humor relativiert alles - Kriege, Hungersnöte, Aids. Nichts rückt uns wirklich zu Leibe, nichts geht uns nahe, alles ist gleichermaßen gültig und egal.

Haben wir kein gesellschaftliches Leitbild mehr - Kinder, Karriere, Caritas?
Doch, es lautet: Glückmaximierung bei Vollkaskoversicherung. Wir wollen schuld- und schmerzfrei durchs Leben kommen. Die Comedy im Fernsehen hilft uns dabei. Alles, was uns am Tag berührt, wird abends wieder relativiert oder durch den Kakao gezogen. Bevor uns die Unruhe packt, schalten wir lieber zu Stefan Raab, Harald Schmidt oder einem der sanften Nachttalker, die uns in den Zustand der Beliebigkeit zurückholen.
Wie findet die Jugend ihr Glück?
Wir haben Jugendliche gebeten, uns ihre Idealvorstellung vom Leben zu schildern. Oft lautete die Antwort sinngemäß: "Am schönsten ist es, gemeinsam mit Freunden im Schlafanzug auf dem Sofa zu sitzen und DVDs zu gucken." Dazu passt ein weiterer Befund. Bei jungen Leuten ist das Handy extrem wichtig. Es dient als Sozialplazenta in der digitalen Welt. Sie stehen ständig in einem moussierenden Datenaustausch, ohne dass dabei wirklich ein Gespräch entsteht. Die Netze sind Kuschelbiotope, in denen man simuliert, nicht allein auf dieser wirren Welt zu sein. Schrillt das Telefon mal zwei Stunden nicht oder geht keine SMS ein, spüren Jugendliche echte Beklemmungen.

Die Jugend - unsozial und unpolitisch?
Keineswegs unsozial, denn wichtig ist für junge Leute heute Nähe, menschliche Wärme. Diese Generation beherrscht das "Nestwerken" wie keine vor ihr. Dabei sind die Mädchen den Jungs weit überlegen. Überraschend, dass uns zugleich mehr Jugendliche als je zuvor sagen, sie würden gern Entwicklungshilfe leisten. Sie werden aber nicht nur von höheren Werten wie Gerechtigkeit oder gar politischen Grundsätzen getrieben, sondern wollen, etwas böse gesagt, auch gern kuscheln mit Abhängigen.

Sie übertreiben!
Unsere vielen Gespräche mit Jugendlichen legen diese Interpretation nahe.

Fassen wir zusammen: Sie sagen, die Deutschen sind "erstarrt", gleichgültig und unpolitisch. Wie konnte es dazu kommen?
Die Antwort heißt: Wir wollen zu viel vom Leben. Im vorigen Jahrhundert hatten die Menschen noch eine analoge Vorstellung vom Leben. Es funktionierte nach dem Prinzip der Schallplatte. Man war wie die Plattennadel in einer fest gefügten Schicksalsrille "gefangen". Das Leben drehte und wendete sich, es gab kein Entrinnen. Man arbeitete und kämpfte sich durch die Furchen, folgte den abenteuerlichen Drehungen und Wendungen des Lebens - und nutzte sich ab. Heute dagegen leben wir digital: Das Leben funktioniert wie eine CD. Auf Knopfdruck kann man Höhepunkte ansteuern. Was nicht gefällt, wird übersprungen.

Schöne neue Welt...
Schauen Sie sich die Werbung im Vorabendprogramm an. Welch eine Flut an Lebensbildern. Jede Marke zeigt einen anderen Weg auf, wie wir unseren Alltag beim Putzen, Heimwerken, Kochen oder Naschen kultivieren können. Alles geht. Alles gilt. Am Ende bleiben wir verwirrt von der Vielfalt der Lebensmöglichkeiten im Sessel zurück.

Wie stark prägt uns das Fernsehen?
Wir nutzen es wie eine Gefühlsapotheke. Bei 30 und mehr Programmen können wir unsere Stimmungslage mit Hilfe der Fernbedienung jederzeit vom Alltagsgeschehen abkoppeln.

Aber warum ist dann beispielsweise der Polit-Talk von Sabine Christiansen bei Millionen Zuschauern so beliebt? Da geht es doch um reale Probleme.
"Christiansen" ist ein Exkulpationsformat. Dort herrscht eine Bewegtheit wie beim Schunkeln im Karneval: Egal, ob Arbeitslosigkeit, Staatsschulden oder Ausländerpolitik diskutiert wird - es geht mal nach rechts, mal nach links, aber man kommt nicht von der Stelle. Mit der Folge, dass ich zwar "Christiansen" mit gutem Willen einschalte, um zu schauen, ob es vielleicht einen Ausweg aus der Krise gibt, am Ende aber immer zu dem Schluss komme: Es gibt keinen. Deshalb darf ich selbst auch so weitermachen wie bisher. Es gibt keine Lösung.
Was folgt daraus?
Verwirrung, Verunsicherung und Enttäuschung. In unseren Tiefeninterviews erfahren wir eindringlich, dass die Welt der Politik oder der Wirtschaft von den meisten Menschen noch nicht einmal ansatzweise verstanden wird.

Was haben Sie über Männer und Frauen herausgefunden? Ticken die Geschlechter immer ähnlicher?
Bis Ende 20 ja. Dann gabeln sich ihre Wege. Frauen geraten in einen Zustand innerer Zerrissenheit, weil sie über Nachwuchs nachdenken. Sie versuchen, zur Superwoman zu mutieren. In einem einzigen Werbeblock werden sie mit einem Dutzend Lebensentwürfen konfrontiert: der liebevollen Mutter in der Knorr-Familie, der Pferde stehlenden Freundin bei Lätta, der Karrieristin bei Hewlett-Packard. Ein Kind zu erziehen ist das letzte analoge Abenteuer, mit eigenen Kindern endet die Zeit der Beliebigkeit. Männern dagegen bleibt immer noch der Fluchtpunkt Büro, wo sie weiter der Ungebundenheit frönen können.

Männer sind doch mittlerweile in der Regel voll eingespannt in der Familie.
Zumindest wird es von ihnen heute erwartet. Es gibt bei uns zwei diametral unterschiedliche Männerbilder: das durchsetzungsstarke Familienoberhaupt und den sensiblen Frauenversteher. Die Unvereinbarkeit dieser Ansprüche zerreißt die Männer. Einige Männer brachten ein Werbemotiv von Eon mit zu unseren Interviews, auf dem Arnold Schwarzenegger mit seinen gewaltigen Pranken einen Küchenmixer schwingt.

Warum?
Sie waren verwirrt, und das Bild zeigt treffend ihre eigene innere Disharmonie. Der britische Fußballer David Beckham legt noch einen drauf: Heterosexuell leben, feminin aussehen, sich um Kinder kümmern, ein vollendeter Liebhaber sein - aber am Arbeitsplatz die Blutgrätsche einsetzen. Mittlerweile wissen die Durchschnittsmänner nicht einmal mehr: Soll ich bei einem Restaurantbesuch der umschwärmten Frau aus dem Mantel helfen? Oder gelte ich dann als Mann von vorgestern?

Besser protzen. Machos wie Dieter Bohlen faszinieren ein Millionenpublikum.
Bohlen fasziniert die Jugendlichen bei "Deutschland sucht den Superstar", weil er das Gegenteil des antiautoritären Vaters ist. Mit den ewig jungen, verständnisvollen Eltern kann kein Generationenkonflikt mehr stattfinden. Streit war aber stets der Motor aller Entwicklung. Es ist sogar entlastend, wenn ich jemanden habe, der mir Paroli bietet. Deshalb wundert es mich nicht, dass vor zwei Jahren in einer Umfrage der Zeitschrift "Popcorn" 45 Prozent der Teilnehmer Bohlen zu ihrem Wunschpapa erkoren haben.

Wird die Fußball-WM im eigenen Land uns neuen Elan geben?
Insgeheim hoffen die Menschen natürlich auf ein zweites Wunder von Bern. In den Tiefeninterviews zur WM sind die Leute in der ersten Dreiviertelstunde immer ganz euphorisch: toller Fußball, Riesenparty, die Welt zu Gast. Sobald sie aber gedanklich richtig entfesselt sind, kippt die Stimmung. Dann fürchten sie plötzlich die Wiederkehr des hässlichen Deutschen, der im Siegesrausch Ausländer verprügelt und über die Stränge schlägt. Die Angst vor Visionen, die Furcht, Leidenschaft könnte in Besessenheit münden, sitzt tief in uns. Da verharren wir lieber im Zustand cooler Gleichgültigkeit.

Der Durch-Schauer
Stephan Grünewald, 45, ist Mitbegründer des Rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung in Köln. Der Diplom-Psychologe stützt sich bei seinen Analysen auf viele tausend Tiefeninterviews, die Rheingold für Auftraggeber aus Industrie und Medien in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchgeführt hat. Das Besondere an der Methode: Jede Befragung dauert mindestens zwei Stunden. Vergleichbar einer Sitzung beim Therapeuten, wird dabei das Alltags- und Seelenleben des jeweils Befragten durchleuchtet.

Angst vor der Leidenschaft - wie soll das Land je wieder in Schwung kommen?
Das wird schwer. Wenn wir zugäben, dass wir wirtschaftlich hintanstehen, dass wir viel mehr arbeiten und unsere Kinder besser ausbilden müssen, dann würden wir eingestehen, nicht mehr im Kohlschen Paradies zu leben. Deshalb wählen wir lieber die Große Koalition, die sich nicht streitet und den Glauben zulässt, alles werde wie von Wunderhand besser.

Zurzeit leben die 50er Jahre wieder auf. Schlummert da vielleicht doch die Leidenschaft der Nachkriegsgeneration in uns?
Der Retrotrend spiegelt sich auch in den Produkten und Filmen wider: Das "Wunder von Bern" oder "Das Wunder von Lengede" locken ein Millionenpublikum. Diese Sentimentalität funktioniert, weil sie eine Aufbruchstimmung recycelt, die ohne Konsequenzen bleibt. Solange das funktioniert, müssen wir Deutschen uns nicht wirklich aufmachen, erneut Meister zu werden. Sentimentalität ist die aufwandslose Form des Größenwahns.

Haben die Deutschen die letzte Abfahrt zum Aufschwung verpasst?
Zum Glück bemerken wir allmählich, dass wir einem Trugbild nachjagen. Mit dem 11. September haben wir den ersten Dämpfer bekommen. Die nachfolgende Sinnkrise läutete einen produktiven Übergang zurück zum normalen Alltag ein. Die Dove-Werbung hat darauf reagiert: Dort posieren keine puppenhaften Idealtypen mehr, sondern schöne Frauen mit Fettpölsterchen und Hängebusen.

Wir lassen uns wieder ein auf das Leben?
Ja, die Hoffnung habe ich. Wir wissen, dass New Economy und Spaßgesellschaft endgültig Geschichte sind, allerdings fehlen uns dafür noch klare Leitbilder. Die gerade gewählte Große Koalition offenbart die Richtungslosigkeit von Politik und Gesellschaft.

Wer kann uns sonst heraushelfen aus unserem stillgelegten Leben?
Wir selbst, indem wir unsere Allmachtsfantasie zurückschrauben, die uns vormacht, wir könnten ein perfektes Leben ohne Konsequenzen führen. Denn sie verhindert, dass wir uns entwickeln. Der Mensch ist auch im 21. Jahrhundert noch ein behindertes Kunstwerk - schwach, widersprüchlich, schutzbedürftig, irrend, alternd und hinfällig.

Wie soll das konkret funktionieren?
Zum Beispiel indem man die eigene Unruhe bekämpft und den Tag nicht systematisch zupfropft. Wir haben Angst, dass in dem Moment, wo wir zur Ruhe kommen, die ganzen ungelösten Fragen des Lebens auf uns einstürzen und wir in eine Sinnkrise geraten. Müßiggang ist nicht aller Laster Anfang, sondern Pause ist aller Entwicklung Beginn.

Therapie im stillen Kämmerlein?
Nicht nur. Wir müssen auch wieder streiten lernen. Richtig lernen. Nicht um Sekundärtugenden oder wer was wie gemeint hat, sondern um den Sinn des Lebens, um den Weg, den unsere Gesellschaft gehen soll.

Brauchen wir neue Helden?
Ja, aber keine Klitschkos, Schumachers oder Beckers, sondern Alltagshelden, Menschen, die ihren Beruf mit Leidenschaft bestreiten, Väter und Mütter, die mal wieder was durchsetzen. Die streitlustig sind. Und die auch mal zugeben, dass sie sich völlig verrannt haben.